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Nachhaltige urbane Stadtplanung – ein „neues Gründerzeitviertel

Sanierte Stadtviertel des 19. Jahrhunderts stellen heutzutage attraktive Wohnquartiere dar. Sie wer-den im deutschsprachigen Raum als Gründerzeitviertel bezeichnet und setzen sich aus einer Vielzahl von „Mietskasernen“ zusammen. Diese sind durch typische Eigenschaften (Blockrandbebauung, kleine Parzellen, Hinterhofbebauung, Nutzungsmischung, etc.) geprägt. Das Wohnumfeld wurde in einem Sanierungsprozess den Bedürfnissen der Bewohner angepasst und suggeriert ge-genwärtig ein angenehmes Empfinden. Die Straßen und Plätze, die öffentlichen Räume sowie die Freiflächen formten damals die historische Stadtstruktur. Der öffentliche Raum ist räumlich begrenzt und erzeugt in den meisten Fällen eine hohe Kommunikations- und Aufenthaltsqualität. Er dient den Menschen außerhalb ihrer Arbeits- und Wohnwelt als öffentlicher Ort. Die Menschen, die in Mietskasernen wohnen, entwickeln zudem in positiver Hinsicht typische Milieus und charakterisieren so die jeweiligen Quartiere durch ein breites Spektrum an Tätigkeiten: Wohnen, Arbeiten, Erholen, Treffen, Einkaufen, Feiern, Lernen. Dieser Typus des kompakten und nutzungsgemischten Quartiers hat bis heute seine Qualitäten behalten. Die Zusammenhänge dieser Stadtstrukturen sind vielfältig. Aufgrund dieser Eigenschaften ist die Stadt, besonders die historische Stadt – ob eine Kleinstadt oder Metropole – ein sehr nachhaltiges Produkt menschlichen Schaffens.

Die Entwicklung solcher Stadtstrukturen ist jedoch durch verschiedene historische Ereignisse im 20. Jahrhundert zum Erliegen gekommen. Die Stadt wurde seither anders behandelt und geplant. Zu den entscheidenden Einflüssen zählten die wachsende und sich verändernde Mobilität sowie die „Charta von Athen“. Das Automobil als Massenfortbewegungsmittel hob räumliche Distanzen auf, und die räumliche Nutzungstrennung von Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Erholung wurde fortan in der Stadtplanung gefordert. Noch 1994 sagte Andreas FELDTKELLER (1994), dass sich seitdem ein urbanes neues Stadtmilieu in neu entstandenen Stadtteilen nicht mehr entwickelt hat. In der Rückbesinnung auf historisches Erbe der europäischen Städte wurde die „alte Stadt“ wieder zeitgemäß und aus dem Bestand heraus saniert. Es entstanden in den 1970er Jahren neue planerische Ansätze, die auch auf „alten“ Ideen beruhten. Die Themen öffentlicher Raum, Nutzungsmischung, Stadt der kurzen Wege, Aufenthaltsqualität, Urbanität wurden aktuell. Durch bestandserhaltende Sanierung alter Gründerzeitviertel, entstanden an modernen Anforderungen angepasste, attraktive Stadtteile. Dieser Zustand deutet an, dass Gründerzeitviertel positive Qualitäten haben sowie durch ihre lange Lebensdauer und kompakte Bauweise nachhaltige Eigenschaften erkennbar sind. FELDTKELLER (2001) zeigt beispielsweise anhand des Französischen Viertels in Tübingen, dass es seit Anfang der 1990er Jahre Ansätze gibt, kompakt bebaute, nutzungsgemischte und urbane Quar-tiere zu errichten.

Die Motivation dieser Arbeit entstand aus der persönlichen Begeisterung für Berlin, im Speziellen für den Ortsteil Prenzlauer Berg, aber auch für andere typische Gründerzeitbebauungen. Die Mietskasernen haben neben negativen auch eine Vielzahl von positiven Aspekten: attraktive Woh-nungszuschnitte, tolerante Milieus, individuell gestaltete Hinterhöfe und einzigartige Nischen. Das Leben in dieser Stadtstruktur mit seinen vielfältigen Möglichkeiten der Entfaltung und Emanzipation wirkt sehr menschlich, modern und tolerant. Es ist ein begehrter Wohnraum, soweit er saniert ist und das Wohnumfeld ebenfalls den Ansprüchen der Bewohner gerecht wird. Bemerkenswert ist zum ersten, dass solche urbane Quartiere mit diesen Straßen-, Gebäude- und Nutzungsstrukturen m. E. nicht mehr gebaut werden, obwohl Leitbilder der Stadtplanung genau diese Art des Bauens fordern und eine große Nachfrage bei dieser Wohnform besteht. Zum zweiten besteht zwischen der gegenwärtigen Planungspraxis und aktuellen stadtplanerischen Grundsätzen, wie „Stadt der kurzen Wege“ und „Nutzungsgemischte Stadt“ eine große Diskrepanz. Die Leitbilder stehen teilweise nur theoretisch hinter neu gebauten Siedlungsstrukturen der jüngeren Vergangenheit.

Der Versuch, einer „alten“ Stadtstruktur zur Renaissance zu verhelfen, kann kritisch betrachtet werden, wird aber in dieser Arbeit als ein Lösungsansatz verstanden. Besonders im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse und der Notwendigkeit einer nachhaltigen Stadtentwicklung sind alle Wohnformen zu betrachten, die diesem Anspruch entsprechen. Gründerzeitviertel gehören nach meiner Auffassung unbedingt dazu. Ein Blick auf Bewährtes und Funktionierendes ist manchmal sinnvoller, als neue städtebauliche Ideen ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Vergangenheit. „Man kann keine Städte planen, ohne zu wissen, welche Art von Gesellschaft darin wohnen soll. Man plant immer für eine Gesellschaft, die es gibt oder geben soll. (Fritsch 1954).“ Der Ortsteil Prenzlauer Berg bietet mit seinen baulichen Strukturen m. E. ein gutes Beispiel, in der eine aufgeklärte, demokratische, tolerante, freie und verantwortungsbewusste Gesellschaft existiert, in der jeder nach seiner Façon leben kann. Es kann ein Ziel des Städteplaners sein, Wohnorte und -umgebungen für diese Gesellschaft „neu“ zu bauen. Es sollten Stadtstrukturen entstehen, die von der Gesellschaft gerne bewohnt werden und zur individuellen Entfaltung beitragen. Dabei sind diese Strukturen ökonomisch und ökologisch sinnvoll in den Gesamtzusammenhang einzugliedern. Der Hintergrund für diese Überlegungen ist, dass eine nachhaltige Stadtentwicklung und die Planung attraktiver Stadtteile für mich an oberster Stelle in der Stadtplanung stehen. Gründerzeitviertel sollten als ein Modell für eine nachhaltige Stadtentwicklung gesehen werden.

Gründerzeitbauten entstanden in der Zeit zwischen 1850 und 1918, auch wenn die politische Grün-derzeit zwischen der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und der ersten darauf folgenden Wirtschaftskrise (Gründerkrach) 1873 lag. In der Zeit zwischen 1849 und 1871 sowie zwischen 1873 und 1918 entstanden städtebaulich, baurechtlich und architektonisch ähnliche Gebäude und Quartiere. Der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehende „Hobrecht-Plan“ wurde eigens für Berlin 1862 entwickelt und war verbindlich. Zu dieser Zeit befand sich Deutschland in einem Gründungsprozess. 1871 fand die Gründung des Deutschen Reiches statt. In der Zeit danach wurden viele Unternehmen, Vereine und Organisationen gegründet. Berlin entwickelte sich dabei zu einer der wichtigsten Industriestädte der Welt. Eine Folge der Industrialisierung war, dass Menschen in die Städte zogen, um dort Arbeit zu finden. In der Zeit zwischen 1871 und 1905 stieg die Einwohnerzahl in Berlin von 826.000 auf 2.040.000 an (Ribbe 2002: 694). Dabei hatte 1849 die Stadt noch 412.000 Einwohner (ebd.: 661). Der Zuwachs erfolgte hauptsächlich durch Zuwanderung. Quartiere, die in der Zeit vor 1918 entstanden, prägen das Bild von Berlin noch heute. Besonders im zweiten Zeit-abschnitt (1871-1918) wurde der Hauptteil der Mietskasernen errichtet. Die Gründerzeitviertel befinden sich hauptsächlich in allen heutigen innerstädtischen Bezirken (z.B. Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte) und an den Bahnhöfen der ehem. Vorortbahnen (z. B. Köpenick, Spandau, Steglitz, Pankow). Es entwickelte sich ein fast flächendeckender Bau- und Stadtstrukturtyp, den Werner HEGEMANN als „Steinernes Berlin“ kritisch beschrieben hat (vgl. Hegemann 1933).

Im Mittelpunkt dieser Arbeit wird gezeigt, welches die charakteristischen Elemente eines Berliner Gründerzeitviertels hinsichtlich der städtebaulichen Zusammensetzung sind, wie dieser Siedlungstyp entstanden ist und welche rechtlichen Instrumente nötig sind, um diese baulichen Strukturen wieder zu entwickeln. Es wird der These nachgegangen: „Gründerzeitviertel sind nachhaltig, da durch sie Boden gespart, nicht erneuerbarer Rohstoff effektiver genutzt, Verkehr reduziert und Umweltbelastung vermindert wird.“ Das Ziel dieser Arbeit wird sein, ein urbanes Stadtquartier zu entwerfen, das Qualitäten der Gründerzeitviertel in sich vereint. Diese Arbeit besitzt zwei Schwerpunkte. Der erste beschäftigt sich mit den Fragen: „Welche Elemente machen Gründerzeitviertel charakteristisch und wie wurden sie geplant?“ und „Sind Gründerzeitviertel nachhaltig und urban?“ Da die Untersuchung eines Gründerzeitviertels ein komplexes Thema darstellt, werden schwerpunktmäßig die baurechtlichen, infrastrukturellen und städtebaulichen Belange untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei Fluchtlinienpläne, die ein nicht mehr angewendetes, aber interessantes Planungsinstrument darstellen. Im zweiten Schwerpunkt werden die Fragen: „Wie können Gründerzeitviertel wieder geplant und gebaut werden?“ und „Wie können sie mit den heutigen Anforderungen an die Stadtplanung in Einklang gebracht werden?“ betrachtet. Daraus ergibt sich die Hypothese: „Wenn strukturelle Elemente von Gründerzeitvierteln wieder gebaut werden, dann entstehen nachhaltige und urbane Quartiere.“ Inwieweit das eintrifft, kann nur die Zukunft zeigen, da gründerzeitliche Strukturen und Quartiere m. E. nicht mehr gebaut werden. Es wird eine Möglichkeit der Stadtentwicklung vorgeschlagen, die mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnissen sowie den aktuellen ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen übereinstimmt. Als Endergebnis wird ein B-Plan nach dem BauGB für ein innerstädtisches Quartier in Berlin entwickelt, dass den Qualitäten eines typischen, dicht bebauten urbanen Quartiers entspricht und gleichzeitig modernen und nachhaltigen Anforderungen gerecht wird. Der Plan wird eine Weiterentwicklung des Bebauungsplans 1862 von James Hobrecht sein. Er besitzt daher ein Minimum an Restriktionen und Regelungen. Da die Gründerzeit eine historisch abgeschlossene Periode darstellt, wird für das entworfene Quartier der Begriff „Neues Gründerzeitviertel“ verwendet. Der Bau- und Strukturtyp der Vergangenheit wird dabei an die Bedingungen der Gegenwart angepasst werden. Der entwickelte Siedlungstyp wird als ein Lösungsansatz für eine nachhaltige Stadtentwicklung angesehen.

Für die Bearbeitung des Themas werden im ersten Schritt historische Gründerzeitviertel aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Es wird eine Bestandsaufnahme eines typischen historischen Gründerzeitviertels durchgeführt, das historische Baurecht untersucht, die Mietskaserne definiert, gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen benannt und eine behutsame Stadterneuerung betrachtet. Im zweiten Schritt wird gezeigt, dass sanierte Gründerzeitviertel heutzutage nachhaltig und urban sind. Diese Schritte bilden den ersten Schwerpunkt dieser Arbeit. Der dritte Schritt leitet die Betrachtung des zweiten Schwerpunktes ein. Um die gegenwärtige Perspektive zu integrieren, werden hier die Anforderungen an ein Neues Gründerzeitviertel beschrieben. Es werden die Elmente benannt, die ein typisches Gründerzeitviertel charakterisieren sowie die Parameter hinzugefügt, die von der modernen Stadtplanung vorgegeben werden. Im Anschluss wird unter-sucht, ob Neue Gründerzeitviertel seitens der Politik und des BauGB’s planbar sind. Die aktuellen gesellschaftlichen, ökologischen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen sind in dieser Arbeit als gegeben anzusehen. Daraus ergibt sich der vierte Schritt, in dem die Instrumente der Stadtplanung untersucht werden, um Neue Gründerzeitviertel zu planen. Dabei wird auf den Flä-chennutzungsplan (FNP) und den Bebauungsplan (B-Plan) als formelles Planungsinstrument sowie auf den städtebaulichen Rahmenplan als informelle Planungsinstrumente eingegangen. Die erarbeiteten Umsetzungsmöglichkeiten werden im fünften Schritt am Fallbeispiel „Neues Bahnhofsviertel“ angewendet. Das Plangebiet stellt die Fläche nördlich des Berliner Hauptbahnhofes, zwischen der Lehrter Straße und dem Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal bis hin zur Perleberger Brücke dar. Es wird für dieses Gebiet ein formeller Plan erstellt, der die erarbeiteten Elemente soweit wie möglich und notwendig festsetzt. Alle sonstigen, aber formell nicht regelbaren Elemente werden durch einen städtebaulichen Rahmenplan in die Planung integriert.
Zu Beginn der Arbeit fand eine Literaturrecherche für wichtig erachtete Themen statt: Urbanität, Flächenverbrauch, Erschließung, ÖPNV, öffentlicher Raum, Versorgung, Nutzungsmischung, Nachhaltigkeit, Dichte, etc. Es wurden ausschließlich Quellen aus Büchern, Broschüren, Zeitschriften und dem Internet genutzt. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Betrachtung von gründer-zeitlichen Quartieren unterrepräsentiert ist. Die Arbeit von Andreas FELDTKELLER (1994) „Die zweckentfremdete Stadt“ und Arno BUNZEL (2000) „Arbeitshilfe Umweltschutz in der Bebauungsplanung“ werden in der Analyse, Bewertung und Planung Anwendung finden. Besonders die Forderung FRICKS: „Die Planung der städtebaulichen Strukturen und der baulichen Anlagen muss von der Begrenzung und der Gestaltung des öffentlichen Raumes ausgehen.“ wird als Handlungsprämisse angesehen (vgl. Frick 2006). Die Werke von Kevin LYNCH (1965), Gerhard CURDES (1993), Dieter FRICK (2006), Christopher ALEXANDER (1995), Josef STÜBBEN (1924), Alfred ABENDROTH (1926) und Camillo SITTE (1889/2001) waren für das Verständnis über Städtebau und Stadtplanung grundlegend. Zusätzlich wurden informelle Gespräche mit Experten von der Universität, aus Stadtplanungsämtern, und von Planungsbüros geführt, um festzustellen, ob die Gedanken und Ideen umsetzbar sind. Folgende Fragen sind zudem für die Arbeit wichtig geworden, da sich hieraus das persönliche Verständnis von Stadtplanung entwickelt hat: Was kann die Stadtplanung und was kann sie nicht leisten? Was muss die Stadtplanung und was muss sie nicht leisten? Wann muss die Stadtplanung etwas leisten? Wann wurde gut geplant? Wie kann Umweltschutz und Stadt zusammen gedacht werden? Diese Fragen stehen den Überlegungen beiseite.

Die Arbeit ist in der Betrachtung eines typisch innerstädtischen Gründerzeitviertels in Berlin-Prenzlauer Berg und deren Untersuchung hinsichtlich baurechtlicher, infrastruktureller und städtebaulicher Gegebenheiten eingegrenzt. Ökonomische, soziologische oder politische Aspekte können nur soweit es die Analyse des urbanen Quartiers betrifft, betrachtet werden. Mögliche Interessen-konflikte zwischen dem Staat, dem Markt und der Gesellschaft bezüglich des Themas zu untersuchen, wären sehr interessant. Sie würden jedoch den Schwerpunkt der Arbeit hin zu einer politik- oder sozialwissenschaftlichen Arbeit verschieben.